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forget it!


Duden 1880: Malefikant bis Malter
Duden 1880 - Stichwort: malpropre

Mlle Malaprop ist ein Projekt von Sascha Brossmann und Thomas Goldstrasz für das 9. Festival Garage, das vom 22. Juli bis 13. August 2005 in Stralsund stattfand. Das Thema des Festivals hieß:

forget_it!

Hier lesen Sie einen Auszug aus dem Konzept-Text. Detaillierte Dokumentationen und Hinweise darüber, wie Sie mit Mlle Malaprop durch das Internat brausen können, werden - früher oder später - über diese Site zugänglich gemacht.


brsma  &  tsz  >>>  forget it!

Mlle Malaprop

Eine Proxyserverin vom Alzheimer Typ

Computer, die Geist haben, werden auch
Geisteskrankheiten haben.
(Vergessener Autor)

Mlle Malaprop ist eine Proxyserverin, die unter einer Demenz vom Alzheimer Typ [s.u.] »leidet«. Sie zeigt das Symptom, das typischerweise in der schleichenden Entwicklung von Alzheimer mit als erstes auffällt: Aphasie; das heißt leichte bis mittelschwere Störungen des Sprachgebrauchs, die dadurch entstehen, dass Wörter – insbesondere spät gelernte, »junge« Wörter – vergessen worden sind.

Mlle Malaprop ist sehr alt. Sie spricht Deutsch und nur Deutsch. Und sie hat alle Wörter »vergessen«, die sie nach 1900 »gelernt« hatte. Um diese für sie unvorteilhafte kommunikative Schräglage auszugleichen, ersetzt sie - in Anlehnung an Mrs. Malaprop [s.u.] - jedes Wort, das sie nicht »kennt«, durch ein Wort aus ihrem »Gedächtnis«, das diesem Wort sehr ähnlich klingt.

Wenn man sie zum Beispiel nach einer Site »befragte«, die eine Formulierung wie
– durch das Internet browsen
enthält, wird sie diese voraussichtlich als
– durch das Internat brausen
»erinnern«.

Grundlage für das aphasische »Wortgedächtnis« der Mlle Malaprop ist die Erstauflage des Vollständigen orthographischen Wörterbuchs der deutschen Sprache von Konrad Duden, die 1880 erschienen ist. Alle Wörter, die nicht darin vorkommern, hat Mlle Malaprop »vergessen«. Ihre malapropistisch anachronistische Methode, die Lücken ihres »mentalen Lexikons« zu füllen, wird durch einen Algorithmus realisiert, der in den Texten aufgerufener Websites jedes Wort, das nicht im Duden des Jahres 1880 steht, durch eines ersetzt, das darin steht und ihm in orthographischer, phonetischer oder morphologischer Hinsicht nahe kommt.

Mrs. Malaprop

Die englische Salondame Mrs. Malaprop ist das literarische Vorbild unserer deutschen Proxyserverin Mlle Malaprop. Sie stammt aus dem Theaterstück The Rivals - A Comedy (1775) von Richard Brinsley Sheridan. Ihr sprechender Name, Malaprop, ist hergeleitet aus dem französischen Ausdruck mal à propos; zu Deutsch: unpassend; zu Konrad Dudens Zeiten auch: malpropre [vgl. Abb.].

Mrs. Malaprop verwechselt immer wieder schwierige Wörter mit Wörtern, die ihnen ähnlich klingen. Weshalb sie eigenartig schräge Sätze von sich gibt, die mal das krasse Gegenteil des Gemeinten bedeuten, andermal dümmlich oder peinlich wirken und wieder andermal wörtlich genommen vollkommen unsinnig sind. Jedes Mal aber kann man, wegen der Ähnlichkeit des gräußerten Wortes zum beabsichtigten Wort, gut verstehen, was sie mit ihrem unpassenden Ausdruck eigentlich sagen wollte.

Eine gute Probe ihres merkwürdigen Sprachgebrauchs gibt die Stelle aus The Rivals, in der Mrs. Malaprop von ihrem Freund Mr. Absolute einen Schmähbrief vorgelesen bekommt, der sie als "old weather-beaten she-dragon" bezeichnet, deren "dull chat with hard words which she don't understand" unerträglich sei.

Ihre Reaktion: "There, Sir! An attack upon my language! What do you think of that? An aspersion upon my parts of speech! Was ever such a brute! Sure if I reprehend anything in this world, it is the use of my oracular tongue and a nice derangement of epitaphs!" [1] Was sie stattdessen sicherlich eigentlich sagen wollte, ist: "Sure if I apprehend anything in this world, it is the use of my vernacular tongue and a nice arrangement of epithets!"

Mrs. Malaprop hat dem Fachbegriff Malapropismus, für den unpassenden Gebrauch von Wörtern, ihren Namen gegeben.

Der klassische Malapropismus, der, wie bei Mrs. Malaprop, bei dem Versuch entsteht, sich einen höheren Bildungsstand anzubluffen, als man hat, bzw. irgendwo mitzureden, wo man nicht mitreden kann, scheint jedoch mittlerweile literaturwissenschaftlich ernsthaft in Vergessenheit zu geraten [2]. Aktueller ist ein bedeutungsmäßig leicht gewandeltes Verständnis des Malapropismus in der Psycho- und Psychopatholinguistik. Dort wird er als Störung des menschlichen Sprachproduktionsapparates aufgefasst und als formale Paraphasie beschrieben:

Als formale Paraphasien bezeichnet man Ganzwortfehler, die keine semantische, sondern eine phonologische Ähnlichkeit zum Zielwort aufweisen. Sie sind bei Aphasikern ungleich seltener anzutreffen als semantische und phonematische Paraphasien und treten immer in Verbindung mit anderen sprachlichen Fehlleistungen auf, sie stellen jedoch bei gesunden Sprechern einen relativ häufig zu beobachtenden Fehlertyp dar und werden als Malapropismen bezeichnet. [...] Malapropismen zeigen eine hohe Zielwortübereinstimmung in der grammatischen Kategorie und im Silben- und Akzentmuster. Der Anlaut ist besser erhalten als der Auslaut, und der Wortmittelteil ist besonders anfällig für phonematische Veränderungen. [3]

Unsere Mlle Malaprop ist daher eine Prozessorin von etwas malproprem Alzheimer-Typ. Normale Alzheimer-Patienten bevorzugen die semantische Paraphasie. Mlle Malaprop dagegen die formale.

Demenz vom Alzheimer Typ

Die Alzheimer-Krankheit trägt ihren Namen nach dem neuropathologisch tätigen Psychiater Alois Alzheimer. Alzheimer beschrieb Anfang des 20. Jahrhunderts neuropathologische Veränderungen im Gehirn von dementen Patienten.

Das derzeit maßgebliche diagnostische und statistische Nachschlagewerk für psychische Störungen, DSM IV, beschreibt die Kriterien zur Diagnose von einer Demenz vom Alzheimer Typ wie folgt:

A. Entwicklung multipler kognitiver Defizite, die sich zeigen in sowohl (1) einer Gedächtnisbeeinträchtigung (beeinträchtigte Fähigkeit, neue Informationen zu erlernen oder früher Gelerntes abzurufen) als auch (2) mindestens einer der folgenden kognitiven Störungen: (a) Aphasie (Störung der Sprache), (b) Apraxie (beeinträchtigte Fähigkeit, motorische Aktivitäten auszuführen, trotz intakter Motorik), (c) Agnosie (Unfähigkeit, Gegenstände wiederzuerkennen oder zu identifizieren, trotz intakter sensorischer Funktionen), (d) Störung der Exekutivfunktionen (d.h. Planen, Organisieren, Einhalten einer Reihenfolge, Abstrahieren).

B. Die kognitiven Defizite aus den Kriterien A1 und A2 verursachen jeweils in bedeutsamer Weise Beeinträchtigungen in sozialen oder beruflichen Funktionsbereichen und stellen eine deutliche Verschlechterung gegenüber einem früheren Leistungsniveau dar.

C. Der Verlauf ist durch einen schleichenden kognitiven Abbau charakterisiert. [4]

Für unseren »Fall«, Mlle Malaprop, maßgeblich ist in erster Linie das Kriterium A2a: Aphasie. Wobei sie allerdings eine etwas andere Aphasie entwickelt hat, als es im Krankheitsbild vom Alzheimer-Typ normalerweise üblich ist. Alzheimer-typische Aphasien sind:

Semantische Paraphasie: Fehlerhaftes Auftreten eines Wortes in der Standardsprache, das zum Zielwort entweder eine bedeutungsmäßige Ähnlichkeit hat oder grob abweicht: Vater statt Mann; einbringen statt einbrechen; Birne statt Lampe. Sowie die Floskel, d.h. die inhaltsarme Redewendung: na, ja; das Dingsda; soundso.

Unsere Proxyserverin Mlle Malaprop bevorzugt stattdessen, ganz, um dem Namen ihres Vorbilds, Mrs. Malaprop, alle Ehre zu machen, die formale Paraphasie: Phonologische Ähnlichkeit zum Zielwort: mariniert statt manieriert; Alternativchen statt Aperitifchen; fatal statt vital; Gladiatoren statt Radiatoren; anonym statt unanim.

Well, her physiognomy is very grammatical, indeed!

05/2005 brsma & tsz

———

[1] Richard Brinsley Sheridan, The Rivals, in: ders. The School For Scandal and Other Plays, Oxford [u.a.] 1998, S. 1-84: S. 46. Weitere Originale aus diesem Stück sind:
... promise to forget this fellow - to illiterate him, I say, quite from your memory. [obliterate]
O, he will dissolve my mystery! [resolve]
He is the very pine-apple of politeness! [pinnacle]
I have since laid Sir Anthony's preposition before her [proposition]
Oh! It gives me the hydrostatics to such a degree. [hysterics]
I hope you will represent her to the captain as an object not altogether illegible. [eligible]
... she might reprehend the true meaning of what she is saying. [comprehend]
...she's as headstrong as an allegory on the banks of nile. [alligator]
I am sorry to say, Sir Anthony, that my affluence over my niece is very small. [influence]
Why, murder's the matter! Slaughter's the matter! Killing's the matter! - But he can tell you the perpendiculars. [particulars]
Nay, no delusions to the past - Lydia is convinced; [allusions]
... behold, this very day, I have interceded another letter from the fellow; [intercepted]
I thought she had persisted from corresponding with him; [desisted]
His physiognomy so grammatical! [phraseology]
I am sure I have done everything in my power since I exploded the affair; [exposed]
I am sorry to say, she seems resolved to decline every particle that I enjoin her. [article]
... if ever you betray what you are entrusted with... you forfeit my malevolence for ever ... [benevolence]
Your being Sir Anthony's son, captain, would itself be a sufficient accommodation; [recommendation]
Vgl. hierzu auch fun-with-words.com's
>>> malapropisms.html

[2] Vgl. den einzigen relevanten Datensatz, den die Suche nach Malapropismus am 04.05.2005 im Katalog der Staatsbibliothek zu Berlin ergeben hat:
Titel: Malapropismen im englischen Drama von den Anfängen bis 1800
Verfasser: Stallmann, Heinz
Erschienen: Bottrop i.W.: Postberg, 1938
Umfang: 113 S. 8''.
Anmerkung: Berlin, Phil. Diss. v. 5. Mai 1938
Signatur: Diss. 1938/823
Standort: Bestand erfragen/Kriegsverlust möglich.

[3] Christoph Horschmann, Sprachlosigkeit: Aphasien als neuropsychologische Störungen des menschlichen Sprachvermögens, Universität Mainz, WWW 1995
>>> Aphasie.html

[4] Aus: Diagnostisches und statistisches Manual psychischer Störungen IV - Textrevision (DSM-IV-TR), Hogrefe-Verl., Göttingen [u.a.] 2003

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